Zwei Wanderer zwischen den Welten

Peter Lemar

Zur Zeit der Vogelgrippe sammeln Jan Assfalg und Elmar  Petersen, zwei 1 Euro-Jobber in Breege auf Rügen  Kadaver ein. Doch eines Morgens dürfen die toten Vögel  nur noch mit Schutzmasken entsorgt werden. Bis die  Masken eintreffen, sitzen beide in einer Kneipe am Hafen  und erzählen sich Geschichten. Petersen, ein Musiker,  berichtet von seiner Zeit in der DDR und Assfalg, ein Ur- Franke, revanchiert sich mit Nietzsche, Schopenhauer &  Co.  
Alle Geschichten erzählen wahre Begebenheiten. An-  gefangen davon, dass die Oktoberrevolution, eine der   größten Revolutionen der Weltgeschichte, nur von einer  Handvoll Leute initiiert wurde, wobei Elitesoldaten in einem  versiegelten Zug quer durch Europa fuhren, bis hin zu  Wilhelm Reich, der schon vor 80 Jahren das Geheimnis  des Lebens gelüftet hätte, wenn er nicht dafür im  Gefängnis gestorben wäre.

Ein Exkurs über Gott und die Welt. Für alle, die mehr  wissen wollen

ISBN 978-3-867038-6-43  |   206 Seiten
Jahr 2008  |   Engeldorfer Verlag
Preis € 11,95 [D]
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Leseprobe
Es schien ein trostloser, kalter Februartag zu werden. Der Himmel war verhangen und ein eisiger Wind blies von Norden her über Rügen. Nun, da sich die See zurückgezogen hatte, konnte man den ganzen Bodden mühelos überblicken. Es war ein unschönes Bild, was sich den beiden Betrachtern bot, um nicht zu sagen, ein schreckliches: Überall lagen tote oder halb verendete Vögel herum, es mochten durchaus ein paar hundert sein.
„Eigenartig“, meinte Petersen. „Das Virus kommt von irgendwo und wir haben nicht die leiseste Ahnung, wie es sich verbreitet.“
„Vielleicht so wie Dollars …“, entgegnete Assfalg. Petersen warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Eben nicht linear, sondern in Clustern und Sprüngen.“
„Aha, in Clustern und Sprüngen“, wiederholte Petersen. „Und wer sagt, dass wir uns nicht schon längst angesteckt haben?“
Assfalg antwortete nicht. Er wusste selber, dass mit der Vogelgrippe nicht zu spaßen war. Allein 1918 hatte sie binnen weniger Monate mehr Tote hinweggerafft als der erste Weltkrieg. Und seit Monaten geisterte nun schon die Horrorvision vom Grippevirus durch die Medien. Es wurde sogar erwogen, Flugabwehrgeschütze gegen Enten einzusetzen. Die Angst saß tief.
„Ein Scheißjob ist das“, schimpfte Petersen. „Für einen Euro die Stunde Kadaver einsammeln, so was hat’s zu DDR-Zeiten nicht gegeben!“
„Glaub’ ich“, sagte Assfalg lapidar. „Aber der Wind hat sich gedreht. Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht eingesammelt werden.“
Irgendjemand rief vom Ufer her, man konnte nur Wortfetzen verstehen. Es war Stallmeier. Er rief irgendetwas von Zurückkommen. Also trabten Assfalg und Petersen zurück. Stallmeier meinte, die toten Vögel dürften nicht mehr ohne Schutzausrüstung beseitigt werden. Es seien Atemschutzmasken unterwegs, doch es könne noch Stunden dauern, bis die da wären. Sie bekämen den Tag aber auf jeden Fall bezahlt.
Das ließen sich die beiden Tagelöhner nicht zweimal sagen. Denn inzwischen hatte es angefangen zu schneien und der Wind pfiff um die Ecken des kleinen Ortes Breege, als wäre dies der letzte Außenposten der Arktis.
„Hol uns, wenn das Zeug da ist“, sagte Assfalg, „wir gehen solange in die Einheit.“
Die kleine Kneipe direkt am Hafen war um diese Zeit noch leer. Lediglich an der Theke saßen zwei Fischer und unterhielten sich mit der Wirtin, einer hübschen Blondine. Die Ölheizung verbreitete eine wohlige Wärme und die tiefhängenden Lampen, die wie Petroleumlampen aussahen, vermittelten ein Bild von Ruhe und Gemütlichkeit. Assfalg und Petersen setzten sich an einen Tisch am Fenster und bestellten zwei Grog.
„Etwas merkwürdig ist das alles schon“, begann Petersen.
„Was?“
„Diese ganzen Seuchen: AIDS, EBOLA, SARS, BSE … und jetzt dieses H5N1-Virus. Ist doch eigenartig, oder?“
„Sicher“, meinte Assfalg. „Aber allen Unkenrufen zum Trotz haben wir überlebt. Und was das Tollste ist: Wir leben immer noch!“
Beide lachten.
„Tja, Petersen, da hat’s uns nun hierher verschlagen, auf diese gottverlassene Insel – einen verkappten Musiker und ’n verkappten Philosophen. Irgendwie werd’ ich das Gefühl nicht los, wir sind wie zwei ausgelatschte Schuhe. Ich der rechte, du der linke.“
„Wieso du der rechte?“
„Na, ich denke, du kommst aus dem Osten. Du bist doch hier der Ossi!“
Petersen lachte. „Vergiss es! Ossi – Wessi. In zwanzig Jahren wird keiner mehr das Wort DDR auch nur erwähnen. Das wird durch den Rost der Geschichte fallen wie irgendein Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert – irgendwo in Zentralafrika. Das interessiert keinen mehr.“
„Da muss ich dich enttäuschen“, entgegnete Assfalg. „Zumindest interessiert es mich. Und zwar jetzt. Nicht erst in zwanzig Jahren! Ich meine, wir waren so lange durch die Mauer getrennt. Keiner wusste was vom andern. Du weißt jetzt, wie ’s im Westen war, aber ich … Für mich ist der Osten immer noch ein Unikum. Deswegen nerve ich dich ja schon die ganze Zeit: Erzähle mir was über die DDR! Wer soll’s denn wissen, wenn nicht du?“
„Also was willst du wissen?“
„Alles will ich wissen. Zum Beispiel, wie das bei euch in der Schule war, bei der Armee und überhaupt … als Musiker. Du hast die Wende miterlebt – dagegen war unsere 68er Revolte ein geselliges Beisammensein!“
„So kann man es nennen“, bestätigte Petersen. Eine Weile schien er in Gedanken versunken. Erst als die beiden Fischer gegangen waren und die Kellnerin den Grog brachte, sagte er: „Also gut. Machen wir einen Deal. Ich erzähl dir was über die DDR und du erzählst mir was über Schopenhauer und Co. Wie viele Semester hast du Philosophie studiert?
„Viele“, erwiderte Assfalg und griente. „Hinzu kommen noch mal so viele Semester Politikwissenschaft. Ich denke, wir haben genug Gesprächsstoff.“

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