Wilder Osten

Geschichten aus der DDR

Peter Lemar

Peter Lemars Geschichten aus der DDR sind eine Zeitreise  zurück in längst vergangene Gefilde deutsch-deutscher  Geschichte. Angefangen vom Kind ohne Namen über Walter  Ulbricht, der 1961 meinte, niemand hätte die Absicht, eine  Mauer zu errichten, bis hin zum Mauerfall 1989.  Beschrieben wird die Schulzeit in Leipzig und wie aufregend es  war, zweimal im Jahr zur Messe den Duft des Westens zu  schnuppern. Nicht zu vergessen die Zeit bei der Nationalen Volksarmee, die Studienzeit und die Zeit als Lehrer und  Musiker. Am Ende sollte noch ein Plattenvertrag bei Amiga  herausspringen, doch der Tag, an dem immer geprobt wurde, war ausgerechnet ein Montag. Also zog man mit um den Ring.
Der Rest ist Geschichte.  Entgegen vielen Vermutungen bezieht sich der Buchtitel nicht  auf die angeblich wilde Zeit in der DDR, sondern auf die  Wendezeit danach, die für die meisten DDR-Bürger eine Zeit  der politischen und kulturellen Inflation war. In den  Kulturhäusern wurden jetzt zu Wucherpreisen Möbel verkauft.  Möbel dritter Wahl aus dem Westen.

ISBN 978-3-8476-9327-7  |   64 Seiten
Juni 2014  |   Neobooks
Preis € 2,99 [D]
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Leseprobe
Zur Messe

Eine Attraktion ganz anderer Art war dem Umstand zu verdanken, dass ich in einer Stadt wohnte, die sich trotz Mauer und Stacheldraht eine gewisse Weltoffenheit bewahrt hatte – in Leipzig. Goethe hatte von Klein-Paris geschwärmt und gesagt: „Mein Leipzig lob ich mir“. Nicht in Berlin, Frankfurt oder München hatte er studiert, sondern in der Messestadt, die im 17./ 18. Jahrhundert das Zentrum der deutschen Frühaufklärung war. Schon zu dieser Zeit hatte die Messe eine über 600jährige Tradition. Vor allem war sie ein Umschlagplatz für den Ost-West-Handel, wobei ihre Bedeutung zu DDR-Zeiten noch zunahm oder zumindest an Brisanz gewann.
Und für uns Kinder war sie ein riesiger Magnet. Nirgendwo sonst in der DDR gab es die Möglichkeit, mal schnell den eisernen Vorhang beiseite zu schieben und nach drüben zu schielen, mal einen Augenblick über den Tellerrand des Sozialismus zu linsen und den Duft des Westens zu schnuppern. Aber gerade weil zur Messe die Fronten aufeinander prallten, war es oberstes Gebot, uns wie richtige sozialistische Persönlichkeiten zu benehmen. Zur Messe würde sich zeigen, wie fest unser Klassenstandpunkt wirklich war. Und getreu Lenins Motto Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser wurden wir vorher ausführlich belehrt. Wir durften nicht betteln, keine Schokolade annehmen oder gar Mercedessterne klauen. Ich werde nie vergessen, wie sich immer im Frühjahr und Herbst die Straßen füllten. Mit Autos. Menschen waren nicht zu sehen, jedenfalls nicht mehr als sonst, dafür aber eine Unmenge Westautos. Autos, die wir sonst nicht zu sehen bekamen. In keiner anderen Stadt der DDR gab es sie je zu sehen. Außer vielleicht in Ost-Berlin – der Hauptstadt der DDR –, aber selbst dort nur ab und an. Und bei uns waren sie zweimal im Jahr auf einen Schlag da, ja sie brachen buchstäblich wie eine Invasion über uns herein. Überall standen sie: an jeder Straßenecke, auf Plätzen, Gehwegen, ja in jeder noch so kleinen Seitenstraße. Dies erweckte den Eindruck, in der Stadt würden plötzlich doppelt so viele Menschen leben. Man sah sie nur nie. Lediglich ihre zurückgelassenen leeren Blechhüllen. Es war so wie mit den Maulwürfen und den Maulwurfshügeln. Man sieht immer nur die Hügel, aber so gut wie nie einen Maulwurf. Sie – die Messebesucher – waren alle auf der Messe! Und wir Kinder auch. Wir drängelten uns durch die überfüllten Messehallen und sammelten Kataloge und Prospekte ein oder andere Werbegeschenke wie Kugelschreiber, Plastiktüten oder Abzeichen. Manchmal gab es auch T-Shirts oder Bluejeans. Ich verstand nicht, wie man all diese Dinge einfach so verschenken konnte; das kostete doch Geld. Aber offenbar war das Geld im Überfluss da. Man konnte es sich leisten, diese Dinge zu verschenken. Das machte Eindruck auf uns – ungeheuren Eindruck. Allein der Geruch der frischgedruckten Prospekte – alles in Farbe und Hochglanz – vermittelte einen Hauch von Luxus. Das war der Westen – der Duft der großen weiten Welt. Eine Welt, die so anders war als unsere kleine biedere DDR, so weit entfernt und doch so nah. Zwar gab es in den sechziger und siebziger Jahren auch Werbung, sogar Fernsehwerbung wie die 1000 Tele-Tips, aber Werbemittel so gut wie nicht. Und wenn doch, dann waren sie billig gemacht, meistens schwarz-weiß. Richtige Farbdrucke wurden nur für den Westen hergestellt – also hauptsächlich für Westdeutschland. Und für uns war Westdeutschland das Symbol für die gesamte westliche Welt. So wie die DDR das Symbol für die Welt des Sozialismus war. Das hatten wir Kinder sehr wohl begriffen und auch so empfunden. Aber diese andere Welt hatte nicht nur etwas Exotisches, sondern ebenso etwas Abgehobenes.
Nämlich immer dann, wenn unsere Straße und alle umliegenden Straßen mit Westautos zugeparkt waren, schlenderten wir die Fußwege entlang, beguckten uns die Westwagen und lugten durch die Autoscheiben. „Eh hier, guckt mal!“ rief dann meist irgendeiner von uns, wenn er einen Wagen entdeckt hatte, der nicht nur 160 oder 180 km/ h auf dem Tacho stehen hatte, sondern sogar 200 oder 220. Dann wurde er in Augenschein genommen und entsprechend begutachtet. Auch Sportwagen waren darunter, ab und an ein Porsche oder Jaguar, der eben 240 km/ h oder mehr auf dem Tacho stehen hatte. Das war für uns unvorstellbar. Wie sollte man mit 240 Sachen über unsere Straßen fahren? Ein Ding der Unmöglichkeit! Beim Moskwitsch meines Vaters, der 34 PS hatte, ging der Tacho bis 140, beim Trabant nur bis 120 km/ h. Von Geschwindigkeiten jenseits der 200 konnten wir nur träumen, ja genau genommen konnten wir sie gar nicht beurteilen, weil das unserer Alltagserfahrung nicht entsprach. Wir orientierten uns lediglich an den abstrakten Werten. Aber es war nicht nur die Geschwindigkeit, was zählte. Für uns war ein Westwagen ein Auto von einem anderen Stern! Uns faszinierte schon die Art und Weise, wie der Wagen gefertigt war – sein ganzes Innenleben. Und damit meine ich nicht nur die Innenausstattung, sondern auch das, was drinnen an Klamotten und Utensilien herumlag: Sonnenbrillen, Etuis, Aktentaschen; all das waren kostbare Requisiten. Requisiten aus einer fremden Welt.

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