Die abstrakte Frau

Das Urteil, Der Boxer, Ed Swings, Die Unsichtbare, Das Rätsel, Der unwahrscheinliche Flug,  Die Zeitfalle, Das andere Leben, Der Rabe, Das multiple Ich, Der reiche Mullah, Die abstrakte Frau,  Der Lebenskünstler.

Das Flugzeug startet und ist im Himmel hoch nicht mehr  aufzuhalten. Generationen später landet es wieder. Und  was wäre, wenn einjeder nicht einmalig, sondern in der  Vielzahl existierte? Und überhaupt begegnet Mann der  Traumfrau äußerst selten. Und von Angesicht zu Angesicht  löst die sich einfach so auf. Da spielt die Fantasie verrückt.  Was man sich vorstellen kann und wie man sich mit dem  Ungewohnten auseinandersetzt, erzählt uns der Leipziger  Musiker und Ex-Radio-Mann Elmar P. Schwenke. Das liest sich anregend und entführt gar wirklich.  Geschichten von verschwimmender Realität. Die Helden  packen ’s manchmal nicht und erliegen Zeitfallen,  Wahnvorstellungen und Selbstzweifeln. Macht was draus und besser! Henner Kotte (BLITZ! Leipzig)

ISBN 978-3-941139-17-6  |   180 Seiten
Juni 2014  |   telescope Verlag
Preis € 12,00 [D]
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Leseprobe
Der reiche Mullah

Es lebte einmal ein ziemlich reicher Mullah in der Nähe von Kairo. Er besaß ein prächtiges Anwesen und lebte dort mit seinen drei Söhnen in Saus und Braus. Das kam nicht von ungefähr, denn der Mullah war ein pfiffiger Mann und er wusste, wie man zu Reichtum gelangen konnte. Das geht ganz einfach, sagte er sich. Man braucht nur etwas, das wie der süße Brei immer wieder nachläuft, und schon hat man ausgesorgt. Gedacht getan. Er kaufte sich ein Ölfeld – denn Öl gab es in seinem Land mehr als genug – und bohrte nach dem kostbaren Elixier. Und siehe da! Es sprudelte nur so aus der Erde empor und er brauchte nichts anderes zu tun, als das Öl gewinnbringend zu verkaufen. Und genau das tat er! Dabei wurde er reicher und reicher. Er kaufte noch mehr Ölfelder und wurde noch reicher. Als er schließlich alles hatte, was man im Leben nur haben kann, da starb er an einer schweren Krankheit.
Nachdem die Trauerfeier vorbei und das Testament geöffnet war, trat jedoch ein Problem zutage, das sich bald darauf zu einer schier unlösbaren Aufgabe entwickelte, auf die keiner so recht eine Antwort wusste.
Der Mullah war ein einflussreicher Mann gewesen und sein Wort wog schwerer denn Gold. Was er sagte, das zählte und wehe dem, wenn sich einer nicht daran hielt! Außerdem hatte er im Laufe seines Lebens eine ganz besondere Vorliebe für Zahlen entwickelt, denn er war von natur aus äußerst genau und akkurat. Nicht so seine Söhne. Die wussten Geld nie zu schätzen, dafür um so schneller auszugeben. Der Vater würde schon dafür sorgen, dass immer genügend davon in den Kassen klingelte. Diese Einstellung war dem Mullah natürlich nicht verborgen geblieben. Auch nicht, dass die drei uneins waren, aber ein jeder gleichermaßen nach seinem Vermögen trachtete. Deswegen hatte er sich eine List ersonnen und sie den dreien gewissermaßen als sein Vermächtnis auferlegt. In seinem Testament stand nämlich folgendes geschrieben:

Von meinen Kamelen soll der Älteste die
Hälfte bekommen. Der Zweitälteste ein
Drittel und der Jüngste ein Neuntel.
Wer die richtige Lösung weiß,
bekommt mein ganzes
Vermögen.
Und wehe ihr zerteilt
meine Kamele,
ihr Kamele!

Nun hatte der Mullah 17 Kamele. Und die drei Söhne zerbrachen sich verzweifelt den Kopf, ob dieser unlösbaren Aufgabe. Jeder wollte gern das Vermögen für sich in Anspruch nehmen. Doch wie sollten sie teilen, ohne einige Kamele zu zerstückeln?
Da kam ein weiser Mann auf seinem Kamel dahergeritten. Er hatte von dem Problem der drei Brüder gehört.
„Alles ist möglich!“ sagte er. „Ihr müsst nur mit den alten Regeln brechen und nach neuen Lösungen suchen.“
„Aber wie soll das gehen?“ riefen alle durcheinander.
„Trick 17!“ antwortete der Weise. „Es sind doch 17 Kamele, um die es geht, oder nicht?“
„Ja, ja!“ pflichteten die drei bei.
Daraufhin lud man ihn zum Essen ein. Und an heiliger Stätte, im Konferenzsaal des väterlichen Palastes, dort, wo bislang alle Ölabkommen und Verträge unterzeichnet worden waren, wurde eine große Tafel eingedeckt und alsbald die köstlichsten Speisen aufgetischt. Es floss der edelste Wein und eine himmlische Musik erklang. Dazu boten orientalische Tänzerinnen den leidenschaftlichsten Bauchtanz dar.
„Wenn Du uns die richtige Lösung verrätst“, sagte der Älteste, „dann bekommst du dafür, was dein Herz begehrt!“
„Ich begehre nichts mehr“, meinte der Weise.
„Du bekommst einen Teil des Vermögens unseres Vaters“, fügte der Zweitälteste hinzu.
„Was will ich damit?“ entgegnete der Weise. „Mein Vermögen ist hier oben“, dabei tippte er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, „und dem Geist sind keine Grenzen gesetzt.“
„Dann beweise es!“ rief der Jüngste.
„Nun gut. Dann holt Eure Kamele“, antwortete der Geistreiche.
Daraufhin erhoben sich alle von ihren Plätzen und begaben sich nach draußen.
Als die 17 Kamele herbeigeholt waren, stellte der Weise seines hinzu und sprach: „Jetzt sind es 18 Kamele. Der Älteste soll die Hälfte bekommen, das sind neun. Der Zweitälteste soll ein Drittel bekommen, das macht sechs Kamele. Der Jüngste soll ein Neuntel bekommen, das sind zwei. Macht zusammen 17 Kamele. Also bleibt meins übrig!“
Wie angewurzelt und mit offenen Mündern standen die drei Brüder da und starrten den Alten an. Der stieg auf sein Kamel, bedankte sich für Speis und Trank und ritt von dannen.
„Aber halt!“ rief ihm nach einer Weile der Älteste hinterher. „Sie bekommen immerhin ein Viertel des Vermögens unseres Vaters!“
„Ich pfeif auf euer Vermögen!“ rief der Alte zurück und zog seines Weges.

Am Tag darauf erfuhren die Brüder, dass der Vater überhaupt kein Vermögen hinterlassen hatte. Kurz vor seinem Tod waren nämlich all seine Millionen in den Neubau der sanierungsbedürftigen Ölanlagen geflossen. Die Firma selber wirtschafteten die drei wenig später in den Ruin. Was ihnen blieb, waren lediglich die Kamele.


Das Rätsel
Egbert Schniggenfittig war ein ehrenwerter Mann. Er führte ein geordnetes, klar geregeltes Leben, war äußerst akkurat und stets pünktlich. All sein Denken und Tun verlief in überschaubaren Bahnen. Es folgte einer inneren Ordnung, die Ausdruck seines
Verständnisses von der äußeren Ordnung der Dinge war. Es gab nichts, was für ihn nicht durchschaubar und vor allem berechenbar gewesen wäre. Ein Ausdruck dessen war zum Beispiel, dass Schniggenfittig in geradezu pedantischer Weise nach der Uhr lebte. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen.
An einem Donnerstag im November verließ Schniggenfittig sein Büro pünktlich um 17 Uhr. Der Pförtner, der ihn aus dem Fahrstuhl kommen sah, sagte: „Pünktlich wie immer, Herr
Schniggenfittig.“
„Stimmt“, sagte Schniggenfittig. „Wiedersehen.“
Nachdem er die üblichen zwei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Schniggenfittig in einen Bus der Linie W – wie jeden Abend. Während er bezahlte, wechselte er ein paar Worte mit dem Busfahrer. Der fuhr schon mehr als 15 Jahre auf dieser Linie, mindestens ebensolange wie Schniggenfittig, und daher kannten sie sich.
„Schöner Abend heute“, sagte Schniggenfittig.
„Soll aber noch gewittern“, erwiderte der Busfahrer.
„Als ob wir die letzten Tage nicht schon genug Regen gehabt hätten“, gab Schniggenfittig zurück.
„Da haben Sie recht.“
Freundlich nickend ging Schniggenfittig weiter und setzte sich auf denselben Platz wie jeden Abend. Er las seine Zeitung, bis der Bus an seiner Haltestelle ankam. Dort stieg er aus und ging den gewohnten Weg: erst die Mottelerstraße entlang, dann über die Eisenacher Straße und noch ein paar Meter bis zu seinem Haus, Möckernsche Straße 38. Wie gewöhnlich machte er sich Abendbrot, erledigte gleich den Abwasch und ging ins Wohnzimmer, wo er sich das Fernsehprogramm ansah. Regelmäßig nach den Tagesthemen schaltete er den Fernseher ab und ging ins Bett.
Gerade hatte er sich hingelegt, da riss ihn ein unangenehmes knarrendes Geräusch aus dem Schlaf. Zuerst dachte er, es wäre die Hoftür. Aber das Geräusch wiederholte sich, wurde deutlicher und klang jetzt so, als ob jemand die Stufen zu seiner Dachwohnung emporkäme.
Und tatsächlich! Er hörte Schritte. Sie kamen langsam und unaufhaltsam näher. Doch wer, fragte sich Schniggenfittig mit einigem Unbehagen, sollte um diese Zeit noch zu ihm kommen?
Auf dem letzten Treppenabsatz hielten sie plötzlich inne. Nichts rührte sich. Alles blieb still. Vom Fenster her fiel ein dünner Strahl Mondlicht ins Zimmer und bildete an der Wand einen großen Schatten. Schniggenfittig starrte zur Tür. Obwohl er sich sicher war, dass er sie zuvor abgeschlossen hatte, hielt er kurz den Atem an. Dabei bemerkte er, wie sich der Schatten an der Wand veränderte: Es war die Türklinke, die sich bewegte. Vor Schreck zog sich Schniggenfittig die Bettdecke bis zum Kinn. Er hörte, wie sein Herz schlug. Sein Puls war auf 120. Er wollte schreien, aber es ging nicht. Sekunden verstrichen. Nichts geschah. Dann, mit
einem Mal, zuckte er zusammen – wieder die Schritte. Aber jetzt – Gott bewahre! – entfernten sie sich. Ruhig und gleichmäßig verließen sie das Haus.
Schniggenfittig wartete, bis die Haustür ins Schloss gefallen war. Dann sprang er mit einem Satz aus dem Bett und eilte zum Fenster. Er schob die Jalousie einen Spalt auseinander und spähte nach draußen. Im Schein der Straßenlaternen konnte er den Fußweg gut überblicken, aber es war dort kein Mensch zu sehen. Lediglich der Regen prasselte unaufhörlich nieder und bildete über dem Pflaster eine Dunstschicht, die wie Nebel aussah.
Schniggenfittig schüttelte den Kopf, ging in die Küche und machte sich einen Drink. Als er damit ins Zimmer kam, hielt er auf einmal inne und sah zur Tür. Nicht, dass er Bedenken gehabt hätte, irgendetwas sei mit ihr nicht in Ordnung. Ganz im Gegenteil, er war sich jetzt völlig sicher, dass er sie verschlossen hatte. Nein, es war etwas anderes. Ihm war plötzlich etwas eingefallen. Er stellte sein Glas auf den Tisch, ging zur Tür hin, ganz dicht heran, und horchte. Er verharrte eine ganze Weile in dieser Haltung, dann fasste er sich ein Herz und öffnete sie. Im Treppenhaus war es finster. Als Schniggenfittig die Hand nach dem Lichtschalter ausstrecken wollte, sah er im spärlichen Lichtkegel etwas auf dem Boden liegen. Es war ein Brief. Ein ganz gewöhnlicher Brief, ohne Anschrift. Er hob ihn auf und machte schnell die Tür wieder zu. Dann blieb er einen Augenblick bedächtig stehen und überlegte. Das Papier in seiner Hand fühlte sich gewichtig an. Warum hatte der Fremde den Brief nicht unten in den Briefkasten geworfen, sondern ihn hier vor die Tür gelegt? Sollte es etwa ein Erpresserbrief sein oder gar eine Briefbombe? Schniggenfittig war kein Freund von unliebsamen Überraschungen. Vielleicht wäre es überhaupt das beste, dachte er, den geheimnisvollen Umschlag einfach wegzuschmeißen, ihn gar nicht aufzumachen. Immerhin stand kein Name darauf.
Aber dann öffnete er ihn doch. Und ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit, als er den Text las, der aus aufgeklebten Zeitungsbuchstaben bestand und folgendermaßen lautete:

Morgen nacht zur gleichen Zeit
steh ich wieder hier bereit.
Weißt Du jenes Rätsel nicht,
hol ich Dich, so will’s die Pflicht.
Torheit war Dein Seelenheil,
damit ist es dann vorbei.
Sterben wird das Urteil sein,
in des Rätsels eignem Schrein!

Ein zweiter, etwas kleinerer Umschlag trug die Aufschrift: „Das Rätsel“. Als Schniggenfittig auch diesen Umschlag öffnete, kamen folgende Zeilen zum Vorschein:

Wer es herstellt, kann’s nicht brauchen,
wer es kauft, dem nützt es nichts,
wer’s besitzt, weiß nichts davon.

Auf einem dritten, unverschlossenen Kuvert stand: „Die Antwort“.

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